ROSY BEYELSCHMIDT
Vergegenwärtigung und Auflösung
Strategien gegen das Vergessen
Aufgabe der Kunst ist es nicht,
Sichtbares wiederzugeben,
sondern sichtbar zu machen.
» Paul Klee «
Die großformatigen Schwarz/Weiß-Fotografien von Rosy Beyelschmidt verweigern sich dem oberflächlichen, schnellen Zugriff. Sie erfordern im Gegenteil ein intensives Einsehen und Suchen nach dem Gegenstand der Darstellung. Erst nach längerem Hinsehen, nach konzentrierter Augenarbeit lösen sich aus den überwiegend dunklen und hellen Flächen Konturen heraus, lassen sich Körper- oder Gegenstandsfragmente erkennen: eine Hand, ein Arm, ein Knie, ein Kopf, eine Stuhllehne, ein Tisch, eine Treppe, ein Vorhang oder ein Mantel. In dem Prozeß fortschreitender Wahrnehmung erschließt sich dem Betrachter ausserdem eine aufgrund von Überlagerung, Überschneidung und Schichtung der Elemente hervorgerufene Raumtiefe, die sich den noch nicht zu einem einheitlichen Raumkontinuum zusammensetzt. Der Versuch, die rätselhaften Bildstrukturen mit einer bildexternen Wirklichkeit zu verbinden, scheitert. Die vielschichtigen Beziehungen der erkennbaren Realitätsfragmente in Kombination mit weiteren, abstrakt erscheinenden Formationen eröffnen dem Betrachter dagegen Assoziationsräume, die sich an seine innere Realität richten. Die Fotografien fungieren so als Auslöser für die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit. Ihr fragmentarischer Charakter setzt einen Prozeß der Erinnerung in Gang, der im Idealfall Verdrängtes an die Oberfläche holt, in jedem Fall aber die Natur des Erinnerungsvermögens bewußt macht.
Mit diesem Verfahren negiert Rosy Beyelschmidt die gängigen Bestimmungen des Fotografischen, wie sie beispielsweise der französische Philosoph Roland Barthes zur Abgrenzung der Fotografie von der Malerei definiert hat. "Anders als bei den Imitationen der Malerei", schreibt Barthes, "läßt sich in der Fotografie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. In der Fotografie gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt der Fotografie ansehen. Worauf ich mich in einer Fotografie intentional richte - so Barthes - ist (also) weder die KUNST noch die KOMMUNIKATION, sondern die REFERENZ." Die referentielle Glaubwürdigkeit und die damit verbundene Authentizität des Bildlichen sind für Roland Barthes Grundprinzipien der Fotografie.
Das Spezifische und Einzigartige von Rosy Beyelschmidts Arbeit liegt dagegen gerade in den von Barthes als sekundär angesehenen Aspekten der Fotografie: ihrem Kunst-Charakter und ihrem kommunikativen Anspruch, bei dem sich eine sukzessive Ablösung vom referentiellen Bezug beobachten läßt.
Zweifellos sind Rosy Beyelschmidts Arbeiten zunächst in einer fotografisch dokumentierten Wirklichkeit verankert. Als Ausgangsmaterial dienen der Künstlerin sowohl eigene Fotografien als auch fotografische Fundstücke - wie sie ihr beispielsweise auf Flohmärkten begegnen. Häufig handelt es sich um Aufnahmen von Personen in alltäglichen Situationen, auf der Straße oder in Innenräumen: ein Mensch auf einem Stuhl sitzend, eine Treppe hinuntergehend - in einem Altersheim, in einem Krankenhaus. Die Künstlerin löst diese Bilder jedoch aus ihrem ursprünglichen Kontext, sie unterwirft ihr Ausgangsmaterial langwierigen künstlerischen Transformationsprozessen, sie klärt, verdichtet und steigert die Bildwirkung, selektiert einzelne Bildelemente, kombiniert mitunter mehrere Bilder, amalgamiert sie zu fotografischen Synthesen und verwandelt ihr Ausgangsmaterial auf diese Weise sukzessive in fotografische Originale, in Werke mit Unikatcharakter. Dabei verwendet sie verschiedene technische Hilfsmittel: erneutes Abfotografieren der Vorlagen, Doppelbelichtungen sowie Diaprojektor und Epidiaskop, mit denen sie die Bildvorlagen übereinanderprojiziert; verschiedene Lampen dienen der Erzeugung unterschiedlicher Lichteffekte. Manchmal bearbeitet sie das Fotopapier auch mit Feuer bzw. einer Flamme. Die Dunkelkammer gleicht einem "Lichtraum", in dem sie ihr Ausgangsmaterial in eindrucksvolle Bildvisionen verwandelt. Eine Aussage über die Herkunft und Bedeutung der verwendeten Bilder ist nach dem Bearbeitungsprozeß kaum mehr möglich. In der semantischen Verrätselung des Bildlichen lockert sich die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, der referentielle Bezug befindet sich im Prozeß der Auflösung. Folgerichtig verweigert Rosy Beyelschmidt denn auch erläuternde Bildtitel. Sie möchte die individuellen Assoziationen des Betrachters nicht durch Hinweise auf mögliche Bedeutungen oder Inhalte in vorgefaßte Bahnen lenken.
Die Idee zu dieser besonderen Form des Umgangs mit dem fotografischen Medium entstand als Resultat früherer Arbeiten mit dem Fotokopierer. Damals benutzte die Künstlerin ihr Gesicht für Copy-Selbstporträts, auf der Suche nach Spuren des Unbewußten, Vergessenen, Verdrängten. Sie preßte ihr Gesicht auf die Glasplatte des Kopierers und arbeitete die Ergebnisse zeichnerisch nach. So entstanden expressive, bizarre Charakterstudien, radikale Selbstbefragungen, die an die fratzenhaften Köpfe von Franz Xaver Messerschmidt und die Übermalungen, die Arnulf Rainer dazu gefertigt hat, denken lassen. Den Lichtkasten des Fotokopierers ersetzte Rosy Beyelschmidt dann durch den "Lichtraum" ihres Ateliers. Dort agiert sie weiterhin mit ihrem Körper, wenn sie die unterschiedlichen Lichtquellen organisiert: "Ich schaffe mir Szenarien, in denen ich die verschiedenen Bildwerfer mit genau festgelegten Bildmaterialien bestücke, sie aktionsgerecht projizieren lasse und mich dabei nach genau festgelegten Konzepten im Raum bewege. Durch Bewegung und Stillstand, durch die dauernde Wiederholung der Aktionen wird mein Körper zu einem abstrakt gewordenen, vergessenen Gebilde, das von pausenlos einwirkenden Lichtbildern ganz oder nur fragmentarisch erfaßt oder gar vom Licht förmlich aufgesogen wird, nicht wahrnehmbar, nur noch erahnbar." Hatte die Künstlerin in früheren Arbeiten ihren eigenen Körper integriert, so ist er in den heutigen Fotografien nicht mehr sichtbar.
Die im Gothaer Kunstforum ausgestellten Schwarz/Weiß-Fotografien sind eigens für diesen Anlaß entstanden. Entsprechend der Architektur der Halle hängen auf einer Seite Großformate (160 x 127 cm), auf der anderen Seite etwas kleinere Formate (132 x 109 cm). Die Reduktion auf Schwarz und Weiß und die fast unendliche Fülle von Grau-Abstufungen dazwischen bedeuten für Rosy Beyelschmidt, wie Thomas Sternberg ausgeführt hat, die Konzentration auf grundlegende Bildqualitäten in den differenzierten Abstufungen des Lichts, der Kontraste und der Komposition. Die "Themen" ihrer Bildwelt haben sich in diesen, erst kürzlich entstanden Werken nicht verändert. Auch hier entdeckt der aufmerksame Betrachter nach langsamen, manchmal fast anstrengendem Einsehen, Körper und Gegenstandsfragmente: eine Kinderhand, die sich an einem Gerüst oder einer Bank festzuhalten scheint und dennoch ins leere greift; ein liegender Arm, ein Ellenbogen, von strengen dunklen Formen durchkreuzt oder überschnitten, über ihm bedrohliche Gerätschaften wie Zangen oder Pferdegeschirr; im Hintergrund die weiß leuchtende Silhouette eines Kittels; dann wiederum ein Innenraum mit einer Stuhllehne oder einer Tischkante, ein Stück geblümter Stoff, der wie der Vorhang eines Fensters erscheint. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzten. Dabei kann man durchgängig zwei unterschiedliche Wirkungen konstatieren: Es gibt Bilder mit latent bedrohlichem Charakter, andere wiederum mit den Qualitäten eines Stillebens. Fragt man die Künstlerin nach dem Ausgangsmaterial der unbearbeiteten Fotovorlage, so ist sie bereit, darüber Auskunft zu geben. Doch was besagen die vermeintlich "realen" Geschichten hinter den Bildern? Welche Information erhalte ich, wenn ich weiß, daß die geheimnisvollen Gerätschaften bei spielsweise in Wirklichkeit Hosenträger sind, der weiße Kittel zu einem Arzt gehört, der neben einem Patienten am Gitterbett steht? Wenn andere Innenaufnahmen z.B. Teile eines Bollerofens darstellen und das Vorhangmotiv eigentlich die Tapete dahinter ist? Die Intentionen von Rosy Beyelschmidts Arbeiten liegen auf ganz anderer Ebene. Sie möchte das vordergründige Geschehen des Originalfotos zurücktreten lassen und in der Verfremdung die möglichen Hintergründe aufdecken. Wie könnte sich eine Geschichte ereignet haben? Die einzelnen Prozesse der künstlerischen Bearbeitung - die im Endergebnis als räumliche Staffelung oder als unterschiedliche Raumschichten wahrgenommen werden - vergleicht sie mit dem sukzessiven Aufdecken der "Wahrheit" hinter der Fassade, dem Vordringen in unbewußte Schichten, dem Aufspüren emotionaler Befindlichkeiten, dem Hervorholen verdrängter Erinnerungen. Enthüllen durch Verhüllen, dem Verborgenen der eigenen Existenz und der der abgelichteten Personen - stellvertretend für jeden Menschen - auf die Spur zu kommen, gehört zu den Antrieben ihrer künstlerischen Arbeit. In den Bildern gibt es Momente, die Einsamkeit, Unsicherheit und Verlassenheit andeuten. Das wiederkehrende Gittermotiv verweist auf das Gefangensein in einer undurchdringlichen Welt. Gleichzeitig veranlassen die Bilder aber "das Wiederfinden des Eigenen wie das behutsame Einfühlen in den anderen ... Die Wahrnehmung des anderen verlangt ruhiges Zugehen, die behutsame Frage, was ... hinter dem Schein verborgen liegt. (Thomas Sternberg)." Wichtig erscheint der Künstlerin der fragmentarische Charakter ihrer Werke, denn auch die Erinnerung an vergessene oder verdrängte Gefühle stellt sich nur bruchstückhaft und vorsichtig ein. In der Spannung zwischen gegenständlicher Lesbarkeit und ihrer Auflösung durch ästhetische Bildmittel eröffnet sich so dem Betrachter ein reiches Spiel bildlicher Feinstrukturen. Sie widersetzten sich dem geläufigen, rasch registrierenden Abhaken von Bild reizen, wie es im Umgang mit fotografischen Bildern und ihren Derivaten, insbesondere Film, Fernsehen und Video, üblich geworden ist.
Der medienkritische Ansatz von Rosy Beyelschmidt läßt eine Parallele zu den Arbeiten der ersten Generation der Videokünstler Ende der 6oer, Anfang der 7oer Jahre zu, die durch Verlangsamen der Bildfolge, bewußte Handlungslosigkeit und Verzicht auf Schnitte die Fersehkonsumattitüden persifliert und irritiert haben. Abgesehen davon, daß die Künstlerin neben der Fotografie auch Videoinstallationen realisiert, kann man ihre Arbeiten historisch in die Tradition der Avantgardefotografen des 20. Jahrhunderts einreihen, die versucht haben, das Sensitive, das Unsichtbare und das Unbewußte auf die fotografische Platte zu bannen. Dazu gehören die Arbeiten von Edward Steichen oder Gertrude Käsebier, die Schadografien von Christian Schad, die Fotogramme von László Moholy Nagy und Man Ray oder die subjektive Fotografie eines Otto Steinert, um nur einige zu nennen. Rosy Beyelschmidt hat diese Tradition mit ihrer individuellen zeitgenössischen Ästhetik neu formuliert.
Bettina Ruhrberg ©
Gothaer Kunstforum Köln
Eine Ausstellung des Atelierforums Köln e.V. und der Gothaer Versicherungen, 1998