Rosy Beyelschmidt
FROM THE HORSE'S MOUTH
2021
Full HD color video, 2-ch sound, 4:13 min [➚]
Director · Writer · Performance · Voice · Composer · Sound : Rosy Beyelschmidt
Writer · Camera · Sound Design · VFX · Editor : Dieter Beyelschmidt
Bei der Auflösung eines kleinen Antiquariats bei dem ich am letzten Tag nur noch Traurigkeit vorfand sagte die betagte Besitzerin zu mir - schau dir die verlorenen Seelen an und zeigte auf den zerfledderten Blätterwald auf dem Boden am Ende des Raums. Nimm mit, kostet nichts - will keiner. Auf einen Stapel lag ein kleiner Pflasterstein, bläulich schimmernd. Ich fragte nach dem Pflasterstein - woher mag er wohl stammen? Ach den Türstopper - den hab ich schon ewig, stammt von dem Vorbesitzer. Unser Gespräch wurde jäh unterbrochen - die leeren Regale wurden abgeholt - ich verabschiedete mich, ihr das Beste wünschend. Abends sortierte ich grob die Buchseiten und säuberte den Stein von seiner Staubschicht. Beim überfliegen und sortieren der Buchseiten, es handelt sich um einen Epos über einen zu unrecht verurteilten Waffenschmied (1787), vernahm ich einen undefinierbaren Geruch, der von den Seiten mit den schmerzlichen Zeilen ausging. Es war nicht der typische Geruch von altem bedrucktem Papier, sondern ehe süss-pfefferisch - es schien, als wären die Seiten getränkt. Auch der Stein in seiner Art - grob behauen - fand sein Gesicht im Lampenlicht dieser Nacht, wie auch ich in den Nächten auflebe.
In der Nacht sinnierend glaubte ich zu wissen, wo ich den Geruch der Buchseiten schon einmal vernommen hatte. 1990 war ich ein Teil eines Residency/Ausstellungsprogramms 'Junge Kunst in Europa, Stiftung Niedersachsen, Hannover' und während dieser Zeit in einer alten Klosteranlage vor den Toren Hannovers untergebracht. Mir wurde ein Raum mit nur einem riesigen Bett zugedacht, das auf einem alten ziemlich ausgelaugtem Bretterboden stand. Hier erinnerte ich mich an den gleichen speziellen Geruch, ohne ihn schon derzeit lokalisieren zu können. Die großen ausgetretenen Steinplatten im Kreuzgang hatten es mir besonders angetan, im abendlichen Licht mattglänzend, in ihrer schlichten Schönheit, wenn ich manchmal in der Nacht einige Minuten dort verbrachte. Bei meiner Reflektion erinnerte ich mich an 'St. Maria im Kapitol' einem frühromanischen Kirchenbau mit Kreuzgang nicht weit entfernt von meinem Atelier, um am nächsten Morgen auf Spurensuche zu gehen - dort entstanden dann auch die Kirchenaufnahmen; in einem Bildfragment ist das Pestkreuz aus dem Jahr 1304 zu sehen. Obwohl ich wie ein Spürhund versuchte die Spur aufzunehmen, konnte ich auch hier den undefinierbaren Geruch nicht entschlüsseln. Aus dem Verlangen meiner Gedankenwelt Form zu geben, begann ich abends die Wände meines Ateliers vollends mit den Buchseiten zu versehen, um hieraus eine Reflektion zu empfangen. Unter diesem Eindruck schrieb ich dann meine 26 Verse nieder, die das Gefühl dieser Nacht wiederspiegeln.
Eine Suche nach Antworten ist für mich auch immer eine Selbstbefragung - Möglichkeit einer Korrektur von Fehldeutungen bzw. Kommunikation im Sinne der (eigenen) Erkenntnis - ewige Fragen. 'From the horses mouth' versteht sich auch als ein Dialog mit demselbst auf der Suche nach der absoluten Reinheit.
at; L’ancien Réservoir de Guilheméry
6 – 31 avril 2022, Toulouse, FR
XXVe Rencontres Internationales Traverse
Capacité (presque) illimitée · (Almost) Unlimited Capacity